Vortrag des ungarischen Ministerpräsidenten Grafen Tisza
(I. Juli 1914)
Allergnädigster Herr!
So sehr ich es vermeiden möchte, Euere Majestät in diesen Tagen zu belästigen , so ist es doch meine Pflicht, Vorstehendes mit möglichster Kürze alleruntertänigst vorzutragen.
Ich hatte erst nach meiner Audienz Gelegenheit, Grafen Berchtold zu sprechen und von seiner Absicht, die Greueltat in Sarajevo zum Anlasse der Abrechnung mit Serbien zu machen, Kenntnis zu erhalten.
Ich habe Grafen Berchtold gegenüber kein Hehl daraus gemacht, daß ich dies für einen verhängnisvollen Fehler halten und die Verantwortung keineswegs teilen würde. Erstens haben wir bisher keine genügenden Anhaltspunkte, um Serbien verantwortlich machen zu können und trotz etwaiger befriedigender Erklärungen der serbischen Regierung einen Krieg mit diesem Staate zu provozieren. Wir würden den denkbar schlechtesten Locus standi haben, würden vor der ganzen Welt als die Friedensstörer dastehen und einen großen Krieg unter den ungünstigsten Umständen entfachen.
Zweitens halte ich diesen Zeitpunkt, wo wir Rumänien so gut wie verloren haben, ohne einen Ersatz dafür bekommen zu haben, und der einzige Staat, auf den wir rechnen können, Bulgarien, erschöpft darniederliegt, überhaupt für einen recht ungünstigen.
Bei der jetzigen Balkanlage wäre es mein geringster Kummer, einen passenden casus belli zu finden. Ist einmal der Zeitpunkt zum Los schlagen gekommen , so kann man aus den verschiedenen Fragen einen Kriegsfall aufrollen. Vorerst muß jedoch eine diplomatische Konstellation geschaffen werden, welche das Kräfteverhältnis weniger ungünstig für uns gestaltet.
Der definitive Anschluß Bulgariens in einer Weise, welche keine Spitze gegen Rumänien hat und die Tür zu einer Verständigung sowohl mit diesem Staate wie mit Griechenland offen hält, wird von Tag zu Tag dringender; es müßte demnach ein letzter Versuch mit Deutschland gemacht werden, um den offenen Anschluß Rumäniens an den Dreibund durchzuführen. Will oder kann Deutschland diese Mission nicht erfüllen, so muß es hinnehmen, daß wir wenigstens Bulgarien dem Driebunde sichern.
Versäumen wir dies Rumänien zuliebe noch länger, so werden nur wir die Schuld tragen, wenn Bulgarien - von uns verlassen - eines schönen Tages sich dem gegen uns gebildeten Bündnisse abschließt und uns auszuplündern hilft, um ein Stück mazedonisches Land hiefür zu erhalten. Schließlich was Rumänien betrifft, so glaube ich, daß unser Bündnis mit Bulgarien die einzige Möglichkeit bietet, Rumänien zurückzubekommen. Bei allem Größenwahn der Rumänen ist nämlich die entscheidende Triebkraft in der Psyche dieses Volkes die Angst vor Bulgarien. Werden sie sehen, daß sie uns von einem Bündnis mit Bulgarien nicht zurückhalten konnten, so werden sie vielleicht suchen, in den Bund aufgenommen zu werden, um in dieser Weise vor bulgarischer Aggression geschützt zu werden.
Das sind die Hauptgesichtspunkte, welche eine energische Aktion meines Erachtens zu
einer dringenden Notwendigkeit machen, und da der bevorstehende Besuch des Kaisers Wilhelm
möglicherweise Gelegenheit hiezu bieten wird, so- hielt ich mich verpflichtet, mit der
alleruntertänigsten Bitte an Eure Majestät heranzutreten, die Anwesenheit Kaisers Wilhelm in
Wien allergnädigst benützen zu wollen, um die Eingenommenheit dieses hohen Herrn für Serbien
an der Hand der letzten empörenden Ereignisse zu bekämpfen und ihn zur tatkräftigen
Unterstützung unserer Balkanpolitik zu bewegen.
Budapest, 1. Juli 1914
(gez.) Stefan Graf Tisza