Schreiben des Grafen Berchtold an die k. u. k. Funktionäre
in Kopenhagen, im Haag, in Brüssel, Dresden,
München, Stuttgart, Bern, Madrid und Lissabon
Wien, den 23. Juli 1914
Adresse:
Graf Széchényi, Kopenhagen,
Baron Giskra, Haag,
Graf Clary, Brüssel,
Baron Braun, Dresden,
Herr von Velics, München
Graf Koziebrodzki, Stuttgart,
Baron Gagern, Bern,
Baron Gudenus, Madrid,
Baron Kuhn, Lissabon.
Die seit einer Reihe von Jahren bestehende großserbische Propaganda, der die Abtrennung unserer südslavischen Länder als Ziel vorschwebt, hat nach dem Verlauf der letzten Balkankriege die bedenklichsten Formen angenommen.
Als eine direkte Folge dieser von Belgrad aus geschürten Agitation muß die in Sarajevo verübte ruchlose Mordtat betrachtet werden, die die gesamte gesittete Welt mit Abscheu und Empörung erfüllt hat. Wie die zur Feststellung des Ursprunges dieses mörderischen Anschlages eingeleitete Untersuchung ergeben hat, ist das Attentat nicht dem Wahnwitz eines einzelnen Individuums zuzuschreiben; es ist das Werk einer weibverzweigten Verschwörung, deren Fäden in das benachbarte Königreich hinüberreichen.
Den leitenden Kreisen in Belgrad konnte jene Agitation, die zur Erreichung ihrer Zwecke die verwerflichsten Mittel anwendet und selbst vor dem Mord nicht zurückschreckt, um so weniger verborgen bleiben, als sich erwiesenermaßen eine große Anzahl dortiger öffentlicher Funktionäre an derselben beteiligten.
Die wohlwollende Passivität, welche die serbische Regierung dem erwähnten verbrecherischen Treiben gegenüber beobachtete, hat mich, wie Euer ./. aus dem Ihnen gleichzeitig zugehenden Erlaß entnehmen werden, veranlaßt, an dieselbe gewisse Forderungen zu stellen, deren umgesäumte und bedingungslose Erfüllung die Wiederkehr normaler Beziehungen zum benachbarten Königreich anbahnen soll.
In den letzten Jahren hätte uns die Haltung Serbiens bereits zu wiederholten Malen begründeten Anlaß geboten, zur Wahrung unseres Ansehens zu den Waffen zu greifen. Im Bewußtsein ihrer Kraft und vom Wunsche geleitet, den Frieden zu erhalten, hat jedoch die Monarchie den serbischen Umtrieben gegenüber stets eine an Selbstverleugnung grenzende Langmut an den Tag gelegt. Die von uns bekundete Friedensliebe hat aber leider vielfach eine irrige Deutung erfahren, indem sie Zweifel an der Kraft und Einigkeit der Monarchie aufkommen ließ und das Selbstbewußtsein unserer Gegner ins Maßlose steigerte. Indem die Belgrader Machthaber und deren Organe den Glauben an die Schwäche der Monarchie und an die Möglichkeit ihres Zerfalles nähren, hoffen sie den Boden für den Moment vorzubereiten, wo - bei Benützung etwa auftauchender schärferer Gegensätze unter den Großmächten - der für Serbien günstigste Augenblick zur Erreichung der angestrebten Ziele eingetreten sein wird.
Es entspricht der konservativen Richtung unserer Politik, mit allen Mitteln die Illusion zu zerstören, als läge es in der Hand des kleinen Nachbarreiches, einen europäischen Krieg zu entfesseln, um seine gegen den Bestand der Monarchie gerichteten Bestrebungen zu verwirklichen. Wir sind daher überzeugt, einem allgemeinen europäischen Interesse zu dienen, wenn wir durch kraftvolles Auftreten die serbischen Aspirationen in die Schranken weisen und - nötigenfalls auch durch Gewalt - und dauernde Ruhe an unserer Südostgrenze sichern.
Wir wollen hierbei die Hoffnung nicht aufgeben, daß die serbische Regierung durch vorbehaltlose Annahme unserer berechtigten Forderungen die Grundlage zu einer friedlichen Entwicklung unserer gegenseitigen Beziehungen schaffen werde.
Ich überlasse es dem Ermessen Euer ./., sobald Hochdieselben von dem unsererseits in Belgrad in Aussicht genommenen Schritte Kenntnis erlangt haben werden, vorstehende Ausführungen im Gespräche mit den dortigen leitenden Staatsmännern zu verwerten.
Empfangen etc.