Graf Szécsen an Grafen Berchtold(1)
Telegramm Nr. 119 Aufg. 4 Uhr 55 M. p. m. Chiffre
Serbien.
Bezug auf Erlaß 3428 vom 20.1. M.(2)
Habe soeben dem mit der Vertretung des abwesenden Ministers des Äußern betrauten
Justizminister Erlaß von gleicher Nr. 3428 vorgelesen und Kopie hinterlassen. Herr Bienvenu
Martin, der durch heutige Morgenblätter vom Inhalt unserer Demarche in Belgrad beiläufig
informiert war, schien durch meine Mitteilung ziemlich impressioniert. Er ließ sich in keine nähere
Erörterung des Textes ein gab aber bereitwillig zu, daß die Ereignisse der letzten Zeit und die
Haltung der serbischen Regierung ein energisches Einschreiten unsererseits ganz begreiflich
erscheinen lassen.
Punkt 5 der in Belgrad überreichten Note schien dent Minister besonders aufzufallen, denn
er ließ sich denselben zweimal vorlesen.
Minister dankte mir für meine Mitteilung, die, wie er sagte, eingehend geprüft werden
würde. Ich nahm die Gelegenheit wahr, um zu betonen, daß es sich um eine Frage handle, die
direkt zwischen Serbien und uns ausgetragen werden muß, daß es aber im allgemeinen
europäischen Interesse liege, wenn die Unruhe, die seit Jahren durch die serbischen Stänkereien
gegen uns aufrechterhalten werde, endlich einem klaren Zustand Platz mache.
Alle Freunde des Friedens und der Ordnung, und zu diesen zähle ich Frankreich in erster
Linie, sollten daher Serbien ernstlich raten, seine Haltung gründlich zu ändern und unseren
berechtigten Forderungen Rechnung zu tragen.
Der Minister gab zu, daß Serbien die Pflicht habe, gegen etwaige Komplizen der Mörder
von Sarajevo energisch vorzugehen, welcher Pflicht es sich wohl nicht entziehen werde. Unter
nachdrücklicher Betonung der Sympathie Frankreichs für ÖsterreichUngarn und der zwischen
unseren beiden Ländern bestehenden guten Beziehungen sprach er Hoffnung aus, daß die
Streitfrage friedlich in einer unseren Wünschen entsprechenden Weise ausgetragen werden wird.
Minister vermied jeden Versuch, die Haltung Serbiens irgendwie zu verteidigen und zu
beschönigen.
Auf die Leitung auswärtiger Politik hat Herr Bienvenu Martin natürlich keinen Einfluß.
1. Vgl. die Fassung im Österreichisch-ungarischen Rotbuch, Nr. 11.
2. Siehe I, Nr. 30.
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Last Updated: June 12, 1997.