Graf Mensdorff an Grafen Berchtold
Telegramm Nr. 108 Aufg. 2 Uhr 50 M. p. m. Chiffre
Im Nachhange zum Telegramm Nr. 107 von gestern(1)
. Soeben Zirkularnote Sir Edward
Grey übergeben, der sie aufmerksam durchgelesen. Bei Punkt 5 fragte er, wie das zu verstehen
sei; Einsetzung von Organen unserer Regierung in Serbien wäre gleichbedeutend mit dem
Aufhören staatlicher Unabhängigkeit Serbiens. Ich erwiderte, Kollaboration von zum Beispiel
Polizeiorganen tangiere keineswegs Staatssouveränität.
Staatssekretär wiederholte seine gestrigen Bedenken gegen kurze Befristung, welche
Einwirkung anderer Mächte nahezu unmöglich mache. Er bezeichnet unsere Note als das
formidabelste Dokument, das je von einem Staat an einen andern gerichtet wurde; anerkannte
aber, daß das was über Mitschuld am Verbrechen von Sarajevo gesagt wird sowie manche unserer
Verlangen berechtigt seien.
Hauptbedenken zur Annahme scheint ihm Punkt 5, die kurze Befristung und daß eigentlich
Text der Antwort diktiert.
Was ihn ernstlich beunruhigt, ist Rückwirkung auf den europäischen Frieden. Wenn dieser
nicht gefährdet wäre, würde er ganz bereit sein, die Angelegenheit als eine solche zu betrachten,
die nur Österreich-Ungarn und Serbien berühre. Er ist aber sehr »apprehensiv«, daß mehrere
Großmächte in einen Krieg verwickelt werden könnten. Von Rußland, Deutschland, Frankreich
sprechend, bemerkte er, die Bestimmungen des französisch-russischen Bündnisses dürften
ungefähr so lauten wie die des Dreibundes.
Ich legte ihm ausführlich unseren Standpunkt dar, verwertete vollinhaltlich die
Erwägungen des Telegrammes Nr. 159 vom 23. d. M.(2)
und wiederholte entschieden, daß wir
festbleiben müßten, um uns doch einigermaßen Garantien zu schaffen, nachdem bisherige
serbische Erklärungen niemals eingehalten wurden. Ich begreife, daß er zunächst nur die Frage der
Rückwirkung auf europäischen Frieden erwäge, er müsse aber auch, um unseren Standpunkt zu
würdigen, sich in unsere Lage versetzen.
Er wollte nicht in eine nähere Diskussion über dieses Thema eingehen, müsse auch noch
Note genauer studieren; jetzt handelt es sich darum, zu versuchen, was man noch tun könne, um
der drohenden Gefahr zu begegnen. Er zitierte zunächst die deutschen und französischen
Botschafter. Mit den Alliierten Österreich-Ungarns und Rußlands, die aber selbst keine direkten
Interessen in Serbien haben, müsse er vor allem in Gedankenaustausch treten.
Er wiederholte häufig, daß er für die Erhaltung des Friedens zwischen den Großmächten
sehr besorgt sei.
2. Siehe I, Nr. 61.
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Last Updated: June 16, 1997.