Graf Szápáry an Grafen Berchtold(1)
Telegramm Nr. 160 Aufg. 2 Uhr 30 M. a.m. 25./7. Chiffre
Nach fünfstündigem Ministerrate empfing Herr Sazonow abends den deutschen
Gesandten, mit dem er eine lange, zum Teil erregte, schließlich aber freundschaftlich endende
Unterredung hatte.
Minister verfocht Grafen Pourtalès gegenüber die - wahrscheinlich als Resultat des
Ministerrates zu betrachtende Ansicht - der österreichisch-ungarisch-serbische Streit sei keine auf
diese zwei Staaten beschränkte Angelegenheit, sondern eine europäische, da der im Jahre 1909
durch eine serbische Deklaration erfolgte Ausgleich unter den Auspizien ganz Europas vollzogen
worden sei. (Dieser sachlich vollkommen unrichtige Standpunkt - England war der Vermittler -
findet leider eine wenn auch sehr indirekte Anerkennung durch die Stelle in unserer Note, wo
einerseits Serbien beschuldigt wird, sich mit »la volonté de l'Europe« im Gegensatz gestellt zu
haben, und andererseits von einer Mitteilung an die »Puissances signataires« die Rede ist.) Minister
hob hervor, daß ihn besonders der Umstand unangenehm berührt habe, daß Österreich-Ungarn die
Prüfung eines Dossiers angeboten habe, während bereits ein Ultimatum ergangen sei. Rußland
würde eine internationale Prüfung des von uns zur Verfügung gestellten Dossiers verlangen. Mein
deutscher Kollege machte Herrn Sazonow sofort darauf aufmerksam, daß Österreich-Ungarn eine
Einmischung in sein . . . . . . . .(2) zu Serbien nicht akzeptieren werde und daß auch Deutschland
seinerseits eine Zumutung nicht annehmen könne, welche Würde des Bundesgenossen als
Großmacht zuwiderlaufe.
Im weiteren Verlaufe des Gespräches erklärte Minister, daß dasjenige, was Rußland nicht
gleichgültig hinnehmen könne, die eventuelle Absicht Österreich-Ungarns wäre »de dévorer la
Serbie«. Graf Pourtalès erwiderte, daß er solche Intention bei Österreich-Ungarn nicht annehme,
da dies dem eigensten Interesse der Monarchie zuwiderlaufen würde. Österreich-Ungarn sei wohl
nur daran gelegen, »d'infliger à la Serbie le châtiment justement mérité«. Herr Sazonow habe seine
Zweifel daran ausgedrückt, ob Österreich-Ungarn, selbst wenn hierüber Erklärungen vorliegen
würden, sich hieran genügen lassen würde.
Die Unterredung schloß mit einem Appell Herrn Sazonows, Deutschland möge mit
Rußland an der Erhaltung des Friedens zusammenarbeiten. Der deutsche Botschafter versicherte
dem russischen Minister, daß Deutschland gewiß nicht den Wunsch habe, einen Krieg zu
entfesseln, daß es aber selbstverständlich die Interessen seines Bundesgenossen voll vertrete.
Vorstehende Konversation scheint mir für die Stellungnahme Rußlands zu unserem
Konflikt mit Serbien symptomatisch. Ob und wann ich zu einer Verwertung des - Italien
gegenüber ohnehin unentbehrlichen Momentes - territorialen Desinteressements der Monarchie
ermächtigt werde, muß ich dem hohen Ermessen Euer Exzellenz überlassen.
Ohne bis jetzt Ursache für die Annahme zu haben, daß Marquis Carlotti diesbezüglich im
Zweifel sei, wäre ich Hochdenselben für eine Andeutung darüber sehr verbunden, ob ich meinem
italienischen Kollegen gegenüber mich auf den Standpunkt der territorialen Uninteressiertheit
stellen darf.
Mit ihm scheint Herr Sazonow nach dem Ministerrat und der Konversation mit Grafen
Pourtalès wohl kaum Fühlung genommen zu haben, da hiezu die physische Zeit mangelte. Dies
ließe darauf schließen, daß der Minister von seinem kaiserlichen Herrn schon vorgängig dahin
instruiert worden sei, nach Tunlichkeit einen Ausweg aus den zu erwartenden Komplikationen zu
suchen.
1. Vgl. die Fassung im Österreichisch-ungarischen Rotbuch, Nr. 16.
2. Chiffre fehlt.
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Last Updated: June 17, 1997.