P e t e r s b u r g , den 27. Juli 1914
Aufg. 2 Uhr 15 M. p. m.
Eingetr. 4 Uhr 30 M. p. m.
Hatte eben lange Unterredung mit Herrn Sazonow.
Deutscher Botschafter hatte mir bereits vormittags gesagt, er habe den Minister heute früh viel ruhiger und entgegenkommender gefunden. Er habe ihm geraten, eine Aussprache mit mir zu suchen, denn er wisse, daß ich Rußland gegenüber von den besten Dispositionen beseelt sei und wie sehr ich bedauere, daß unsere Aktion gegen Serbien in Petersburg auf so wenig Verständnis stoße. Herr Sazonow empfing mich, im Gegensätze zu seiner recht verschnupften Haltung am Freitag, sehr liebenswürdig. Er berief sich auf die oberwähnten Mitteilungen des Grafen Pourtalès und sagte, er würde mich, wenn ich mich nicht selbst angesagt hätte, gebeten haben, zu ihm zu kommen, um einmal offen mit mir zu sprechen. Freitag sei er etwas überrascht gewesen und habe sich nicht soweit beherrscht, als er gewünscht hätte, und dann sei unser Gespräch doch nur ein ganz offizielles gewesen.
Ich erwiderte, daß auch ich den Wunsch gehabt hätte, mit ihm einmal aufrichtig zu sprechen, da ich den Eindruck hätte, daß man über den Charakter unserer Aktion in Rußland in Irrtümern befangen sei. Man imputiere uns, hiemit einen Vorstoß auf den Balkan unternehmen und den Marsch nach Salonich oder gar nach Konstantinopel antreten zu wollen. Andere wieder gingen so weit, unsere Aktion nur als den Auftakt eines von Deutschland geplanten Präventivkrieges gegen Rußland zu bezeichnen. All dies sei teils irrig, teils geradezu unvernünftig. Das Ziel unserer Aktion sei Selbsterhaltung und Notwehr gegenüber einer feindseligen, unsere Integrität bedrohenden Propaganda des Wortes, der Schrift und der Tat. Niemandem in Österreich-Ungarn falle es ein, russische Interessen bedrohen oder gar Händel mit Rußland suchen zu wollen. Das Ziel jedoch, das wir uns vorgesetzt, seien wir unbedingt entschlossen, zu erreichen, und der Weg, den wir gewählt hätten, schien uns der zweckdienlichste. Da es sich aber um eine Aktion der Notwehr handle, könne ich ihm nicht verhehlen, daß man bei einer solchen jede wie immer geartete Konsequenz in Betracht ziehe. Trotzdem sei ich mir darüber klar, daß, wenn es zu einem Konflikte mit den Großmächten käme, dies die fürchterlichsten Folgen haben müsse, und dann die religiöse, moralische und soziale Ordnung auf dem Spiele stehen würde. Ich führte sodann in lebhaften Farben, den auch von Sir E. Grey hier wohl mit Nachdruck vertretenen Gedanken an die Konsequenzen eines europäischen Krieges aus.
Herr Sazonow stimmte mir lebhaft bei und zeigte sich über die Tendenzen meiner Ausführungen ungemein erfreut. Er erging sich in Versicherungen, daß in Rußland nicht nur er, sondern das ganze Ministerium und, was am meisten ins Gewicht falle, der Souverän von den gleichen Gefühlen gegen Österreich-Ungarn beseelt sei. Er könne nicht leugnen, man habe in Rußland alte Rankünen gegen die Monarchie, er gestehe, er habe sie auch, doch dies gehöre der Vergangenheit an und dürfe in der praktischen Politik keine Rolle spielen, und was die Slawen anbelange, so sollte er dies dem österreichisch-ungarischen Botschafter zwar nicht sagen, aber er habe gar kein Gefühl für die Balkanslawen. Diese seien für Rußland sogar eine schwere Last, und wir könnten uns kaum vorstellen, was man von ihnen schon zu leiden gehabt habe. Unser Ziel, wie ich es ihm geschildert habe, sei ein vollkommen legitimes, aber er meine, der Weg, den wir zu dessen Erreichung verfolgen, sei nicht der sicherste. Die Note, die wir überreicht hätten, sei in der Form nicht glücklich. Er habe sie seitdem studiert, und wenn ich Zeit hätte, möchte er sie nochmals mit mir durchschauen. Ich bemerkte, daß ich zu seiner Disposition sei aber weder autorisiert sei, den Notentext mit ihm zu diskutieren noch denselben zu interpretieren. Seine Bemerkungen seien aber natürlich von Interesse. Der Minister nahm sodann alle Punkte der Note durch und fand heute von den 10 Punkten 7 ohne allzu große Schwierigkeiten annehmbar, nur die 2 Punkte betreffend die Mitwirkung von k.u.k. Funktionären in Serbien und den Punkt betreffend die Entlassung von unserseits ad libitum zu bezeichnenden Offizieren und Beamten fand er in dieser Form unannehmbar. Bezüglich des 5. Punktes war ich in der Lage, eine authentische Interpretation im Sinne Euer Exzellenz Telegrammes Nr. 172 vom 25. 1. M. zu gebenSiehe [[II, 38. Graf Berchtold an Grafen Szápary in Petersburg, 25. Juli 1914|II, Nr. 38]]. , bei den beiden anderen meinte ich, daß ich deren Interpretation durch meine Regierung nicht kenne, daß dies aber beides notwendige Forderungen seien. Herr Sazonow meinte, daß man zum Beispiel eine konsularische Intervention bei Untersuchungen ins Auge fassen könnte, und was die Entlassung anbelangt, doch Beweise gegen die Betreffenden vorbringen müßte. Sonst wurde König Peter sofort riskieren, umgebracht zu werden. Ich erwiderte, daß diese Einschätzung durch den Minister die beste Begründung unserer serbischen Aktion bilde. Herr Sazonow meinte, wir müßten uns vor Augen halten, daß die Dynastie Karageorgevic wohl die letzte serbische Dynastie sei und wir doch nicht einen anarchischen Hexenkessel an unserer Grenze schaffen wollen? Ich erwiderte, daß wir gewiß an der Erhaltung der monarchischen Staatsform ein Interesse hätten, daß aber auch diese Bemerkung des Ministers beweise, wie notwendig unser entsprechendes Auftreten gegen Serbien sei. Resumierend erklärte der Minister, er finde, daß es sich eigentlich in der Notenangelenheit nur um Worte handle und daß sich vielleicht ein uns genehmer Weg finden ließe, wie man über diese Schwierigkeiten hinwegkommen könne. Würden wir die Mediation unseres Alliierten, des Königs von Italien annehmen oder die des Königs von England? Ich erwiderte, daß ich hierüber nicht in der Lage sei, eine Ansicht zu äußern, daß mir die Dispositionen meiner Regierung unbekannt seien, daß die Dinge im Rollen seien und daß gewisse Sachen nicht rückgängig gemacht werden könnten. Überdies hätten die Serben schon gestern mobilisiert, und was sich seither noch ereignet habe, sei mir unbekannt.
Herr Sazonow äußerte am Schlusse seiner Unterredung nochmals in den wärmsten Worten seine Freude über die Aufklärungen, die ich gegeben und die ihn wesentlich beruhigt hätten. Er werde auch Kaiser Nikolaus davon Meldung erstatten, Höchstwelchen er übermorgen, wo er Empfangstag habe, sehen werde.
Der Weg, welchen die russische Politik in zwei Tagen von der ersten schroffen Ablehnung unseres Vorgehens und der Gerichtssitzung über unser Dossier bis zur Europäisierung der ganzen Angelegenheit und von da wieder bis zur Anerkennung der Legitimität unserer Ansprüche und zum Suchen nach Mediatoren zurückgelegt hat, ist ein weiter. Trotzdem darf nicht übersehen werden, daß neben der rückläufigen diplomatischen Bewegung eine lebhafte militärische Aktivität einhergeht, durch welche sich Rußlands militärische und somit auch diplomatische Situation täglich zu unseren Ungunsten zu verschieben droht.
P. S.
Gesprächsweise erwähnte Herr Sazonow, ob ich ihm Einsicht in unser Dossier geben könne und auf meine Erwiderung, daß ich nicht im Besitze desselben sei, ob dasselbe nicht Herrn Schebeko in Wien zugänglich gemacht werden könnte.