Kaiser Wilhelm an Kaiser und König Franz Joseph(1)
Bornholm, den 14. Juli 1914
Mein teuerer Freund!
Mit aufrichtiger Dankbarkeit habe ich es empfunden, daß Du in den Tagen, wo Ereignisse von erschütternder Tragik über Dich hereingebrochen waren und schwere Entscheidungen von Dir forderten, Deine Gedanken auf unsere Freundschaft gelenkt und diese zum Ausgangspunkt Deines gütigen Schreibens an mich gemacht hast. Ich betrachte die von Großvater und Vater auf mich Überkommene enge Freundschaft zu Dir als ein kostbares Vermächtnis und erblicke in deren Erwiderung durch Dich das sicherste Pfand für den Schutz unserer Länder. Bei meiner verehrungsvollen Anhänglichkeit an Deine Person wirst Du ermessen können, wie schwer die Aufgabe meiner Reise nach Wien und der mir auferlegte Verzicht auf die öffentliche Bekundung meiner innigen Anteilnahme an Deinem tiefen Schmerz mich bekümmern mußten.
Durch Deinen bewährten und von mir aufrichtig geschätzten Botschafter wird Dir meine Versicherung übermittelt worden sein, daß Du auch in den Stunden des Ernstes mich und mein Reich in vollem Einklang mit unserer altbewährten Freundschaft und unseren Bündnispflichten treu an Euerer Seite finden wirst. Dir dies an dieser Stelle zu wiederholen, ist mir eine freudige Pflicht.
Die grauenerregende Freveltat von Sarajevo hat ein grelles Schlaglicht auf das unheilvolle Treiben wahnwitziger Fanatiker und die den staatlichen Bau bedrohende panslawistische Hetzarbeit geworfen. Ich muß davon absehen, zu der zwischen Deiner Regierung und Serbien schwebenden Frage Stellung zu nehmen. Ich erachte es aber nicht nur für eine moralische Pflicht aller Kulturstaaten, sondern als ein Gebot für ihre Selbsterhaltung, der Propaganda der Tat, die sich vornehmlich das feste Gefüge der Monarchien als Angriffsobjekt ausersieht, mit allen Machtmitteln entgegenzutreten. Ich verschließe mich auch nicht der ernsten Gefahr, die Deinen Ländern und in der Folgewirkung dem Dreibund aus der von russischen und serbischen Panslawisten betriebenen Agitation droht, und erkenne die Notwendigkeit, die südlichen Grenzen Deiner Staaten von diesem schweren Drucke zu befreien.
Ich bin daher bereit, das Bestreben Deiner Regierung, das dahin geht, die Bildung eines neuen Balkanbundes unter russischer Patronanz und mit der Spitze gegen Österreich-Ungarn zu hintertreiben und als Gegengewicht ferner den Anschluß Bulgariens an den Dreibund herbeizuführen, nach Tunlichkeit zu fördern. Demgemäß habe ich trotz gewisser Bedenken, die in erster Linie durch die geringe Zuverlässigkeit des bulgarischen Charakters bedingt werden, meinen Gesandten in Sofia anweisen lassen, die diesbezüglichen Schritte Deines Vertreters auf dessen Wunsch zu unterstützen.
Des weiteren habe ich meinen Geschäftsträger in Bukarest beauftragt, sich zu König Carol im Sinne Deiner Anregungen zu äußern und unter Hinweis auf die durch die jüngsten Ereignisse neu geschaffene Lage die Notwendigkeit eines Abrückens von Serbien und einer Unterbindung der gegen Deine Länder gerichteten Agitation hervorzuheben. Ich habe gleichzeitig betonen lassen, daß ich den größten Wert auf die Erhaltung der bisherigen vertrauensvollen Bundesbeziehungen zu Rumänien lege, die auch bei einem eventuellen Anschluß Bulgariens an den Dreibund keinerlei Beeinträchtigung zu erleiden brauchen würden.
Zum Schluß darf ich dem herzlichen Wunsche Ausdruck geben, daß es Dir vergönnt sein möge, nach den schweren Tagen durch den Aufenthalt in Ischl Erholung zu finden.
In aufrichtiger Anhänglichkeit und Freundschaft
Dein treuer Freund
(gez.) Wilhelm